Die Menschheit, so scheint es, strengt sich nur so lange an, als sie stumpfsinnige Zeugnisse zu erwarten hat, mit welchen sie in der Öffentlichkeit auftrumpfen kann, hat sie genug solcher stumpfsinniger Zeugnisse in der Hand, läßt sie sich gehen. Sie lebt zum Großteil nur, um Zeugnisse und Titel zu erreichen, aus keinem anderen Grund und hat sie die ihrer Meinung nach ausreichende Zahl von Zeugnissen und Titeln erreicht, läßt sie sich in das weiche Bett dieser Zeugnisse und Titel fallen.

So können wir ohne weiteres sagen, daß in der Menschheit nicht die Menschen unter sich verkehren, sondern nur die Zeugnisse und Titel, die Menschen sind in der Menschheit, grob gesprochen, gleichgültig, wichtig sind nur die Titel und Zeugnisse. Nicht Herrn Huber treffen sie im Kaffeehaus, sondern den Doktortitel Huber, nicht mit dem Herrn Maier gehen sie essen, sondern mit dem Diplomingenieur desselben Namens. Erst dann, scheint es, haben sie ihr Ziel erreicht, wenn sie nicht mehr der Mensch, sondern der Diplomingenieur sind, wenn sie nicht mehr, wie sie glauben, *nur* die Frau Müller, sondern die Frau Gerichtsrat sind.

Diese Zeugnis- und Titelsucht ist zwar in ganz Europa verbreitet, aber sie hat zweifellos in Deutschland und vor allem in Österreich einen Grad der Ungeheuerlichkeit und Groteske erreicht, der niederschmetternd ist.

(Thomas Bernhard, Auslöschung)