Reinhard Winkler,
TU Wien,
Österreichische Akademie der Wissenschaften
20.4.2001
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Der scheinbare Widerspruch zur Tatsache, dass durch Bewegungen keine Volumina verändert werden können, löst sich auf, wenn man die Konsequenz zieht, dass die Teile in der Zerlegung so kompliziert sind, dass ihnen gar kein Volumen zugeordnet werden kann.
In diesem Artikel wird ein Beweis des Paradoxons von Banach-Tarski gebracht, der sich zwar an Wagon's Monographie [Wa 2] anlehnt, der aber kein mathematisches Wissen voraussetzt, das über den Schulstoff noch vor der Infinitesimalrechnung hinausgeht. Dementsprechend werden fundamentale Eigenschaften abzählbarer und überabzählbarer Mengen, soweit sie für den Beweis notwendig sind, im Text ausführlich besprochen. Die bei der Konstruktion der paradoxen Zerlegung involvierten Drehungen werden ohne Verwendung des Matrizenkalküls behandelt. Lediglich mit linearen Gleichungssystemen wird umgegangen, deren Interpretation als Drehungen explizit erläutert wird. Der Grenzwertbegriff kommt nur implizit über die Zifferndarstellung reeller Zahlen vor.
Anschließend an den Beweis wird noch die Bedeutung des Paradoxons in etwas größerem Kontext diskutiert. Solche Diskussionen über die Bedeutung mathematischer Sätze in ideengeschichtlichem Zusammenhang erscheinen für den Schulunterricht wünschenswert.
Der Artikel soll exemplarisch zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, anspruchsvolle Mathematik auf Schulniveau zu betreiben, ohne sich in endlosen Rechnereien zu erschöpfen, und dabei außerdem zu starken Resultaten zu gelangen, ohne unzulässige Verkürzungen in Kauf nehmen zu müssen. Überdies können anhand des Paradoxons von Banach-Tarski grundsätzliche Fragen über das Wesen der Mathematik und anderer Wissenschaften angeschnitten werden.
Grob gesprochen besagt das Paradoxon von Banach-Tarski (PvBT), dass es möglich ist, eine Kugel in mehrere Teile zu zerlegen und diese so zusammenzusetzen, dass man schlussendlich zwei Kugeln hat, von denen jede jeweils das gleiche Volumen hat wie die ursprüngliche Kugel.
Diese Aussage klingt höchst paradox und scheint auf den ersten Blick dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen. Sie scheint nämlich die Verdopplung von Volumina zu ermöglichen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man die Konsequenz zieht, dass die Kugelteile in der Zerlegung ganz einfach kein wohldefiniertes Volumen besitzen, weil sie so kompliziert sind, dass es zwar kaum vorstellbar aber doch denkbar ist.
Zweifellos ist das Paradoxon von Banach-Tarski eines der spektakulärsten Resultate der reinen Mathematik. So sehr es auch zunächst verblüffen mag - nach etwas eingehenderer Analyse verliert es seine (scheinbare) Absurdität und wird zu einem ganz gewöhnlichen mathematischen Satz, der bewiesen und verstanden werden kann.
Es zieht aber auch bedeutende innermathematische Konsequenzen nach sich und gibt zu interessanten Überlegungen über das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit Anlass.
Vorneweg soll betont werden, dass mündlicher Vortrag und schriftliche Fixierung sehr unterschiedliche Mitteilungsformen sind, jede mit Vor- und Nachteilen. Deshalb kann die vorliegende schriftliche Fassung nicht dieselben Mittel einsetzen wie der mündliche Vortrag.
Beiden Darstellungen gemeinsam ist der Versuch, durch sparsamen Einsatz
der mathematischen Zeichensprache den mit dieser nicht so
vertrauten Schüler, Leser oder Zuhörer nicht abzuschrecken. Anstelle
umfangreicher Formelketten
wird vor allem in der schriftlichen Fassung oft durch ausführliche
verbale Beschreibung ein anschaulicher Zugang zu den wichtigsten
Ideen angestrebt. Der mündliche Vortrag kann und soll
diesbezüglich einiges mit rhetorischen Mitteln ersetzen.
Das Wesen selbst mathematischer Beweise ist primär Überzeugungskraft
und nicht Formalisierung. Dennoch wird vor allem in der schriftlichen
Fassung der Anspruch auf Vollständigkeit der Beweise erhoben.
Das erste Hauptziel dieses Artikels, nämlich einen kompletten Beweis einer Version des Paradoxons von Banach-Tarski zu präsentieren, scheint angesichts der mathematischen Tiefe dieses Satzes durchaus ehrgeizig. Schließlich handelt es sich bei den Didaktikheften ja nicht primär um ein Forum für Fachartikel aus der mathematischen Forschung. Es soll aber auch in didaktischem Kontext kein Zweifel daran aufkommen, dass Beweise in der Mathematik eine zentrale Rolle spielen. Natürlich wäre es verfehlt, Vollständigkeit immer und überall zu fordern. Was mit angemessenem Aufwand verstehbar ist, soll aber verstehbar gemacht werden. Die Akzeptanz für Mathematik in der Öffentlichkeit kann sicher wesentlich verbessert werden, wenn sich weniger Menschen ausgeschlossen fühlen.
Das Augenmerk wird im Beweis so sehr auf die wesentlichen Ideen gelegt, dass das Resultat selbst für den mathematischen Laien plausibel, für den nur durchschnittlich begabten und ambitionierten Schüler oder Studienanfänger sogar restlos verstehbar wird. Damit soll exemplarisch vorgeführt werden, dass sich manche äußerst attraktive und bedeutende Ergebnisse der Mathematik durchaus dafür eignen, ohne Verkürzung einem deutlich breiteren Publikum zugänglich gemacht zu werden, nicht nur Fachstudenten in fortgeschrittenen Semestern. Insofern versteht sich dieser Artikel in erster Linie als didaktisch.
Hierin unterscheidet er sich nicht nur von den bald 100 Jahre
alten Originalarbeiten
[H] und [Ba-T], sondern auch von hervorragenden und leichter
lesbaren Artikeln jüngeren Datums wie [St] und [Wa 1].
In [Wa 2] liegt sogar eine sehr
empfehlenswerte Monographie zum Thema vor. Diese Werke richten sich
durchwegs an ein Publikum von, wenn auch nicht spezialisierten,
so doch mathematisch überdurchschnittlich ausgebildeten Lesern.
Das zweite Hauptziel des vorliegenden Artikels besteht darin, wenigstens in Ansätzen die Bedeutung des Paradoxons von Banach-Tarski im Gesamtkontext der Mathematik und sogar in darüber hinausgehenden wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen zur Sprache zu bringen. Innermathematisch seien die Schlagworte wie Messbarkeit von Mengen und Invarianz von Maßen bezüglich bestimmter Gruppen von Transformationen erwähnt. Außermathematisch geht es z.B. um das Verhältnis zwischen Mathematik und empirischer Wirklichkeit oder um generelle erkenntnistheoretische Fragen. Der Relevanz von mathematischen oder anderen einzelwissenschaftlichen Ergebnissen in größeren Zusammenhängen kann im Unterricht kaum genug Bedeutung beigemessen werden.
Der Artikel richtet sich vor allem an Mathematiklehrer an Höheren Schulen in der Hoffnung, dass das Gebotene reich genug ist, um eine individuelle Auswahl für den Unterricht zu ermöglichen und Anregungen zu bieten. In einer beliebigen Klasse der Oberstufe einer AHS sollten geringfügige Anpassungen der Darstellung an den aktuellen Wissensstand reichen, um den präsentierten Stoff oder Teile davon im Unterricht einzubauen.
Wir werden den vollständigen Beweis für das PvBT in folgender
Formulierung führen:
Das Paradoxon von Banach-Tarski:
Bezeichne die volle Einheitskugel im dreidimensionalen Anschauungsraum.
(Formal ist das die Menge aller Punkte
, deren Abstand
vom Koordinatenursprung nicht größer als eine Einheit ist.)
besitzt eine paradoxe Zerlegung bezüglich Bewegungen im
.
Das heißt:
Es ist möglich, disjunkte (das heißt paarweise nicht überschneidende) Mengen
und
zu finden, welche zu zwei
vollen Kugeln, ebenfalls mit Radius 1, zusammengesetzt werden können.
Das soll wiederum bedeuten, dass es sogenannte Bewegungen (das sind
Transformationen, welche sich aus Drehungen und Schiebungen zusammensetzen)
,
, und
,
,
gibt mit folgender Eigenschaft:
Unterwirft man die Mengen
den
, so erhält man Mengen
,
deren Vereinigung die gesamte Kugel
ergibt. Analoges gilt für die
und
, also:
Man beachte, dass in der obigen Formulierung des PvBT nicht
alle und
weiterverwendet werden, falls
oder
.
Man kann aber zeigen, dass
und
gewählt,
die Zerlegung also mit 5 Teilen bewerkstelligt werden kann.
Es gilt sogar die Verschärfung, dass je zwei beschränkte
Teilmengen des
, welche beide irgendeine Kugel mit positivem Radius
enthalten, zerlegungsgleich sind. Das soll heißen, dass
man die eine Menge geeignet in endlich viele Stücke zerlegen kann die,
richtig zusammengesetzt, die andere Menge ergeben.
Der Beweis dieser Aussagen erfordert aber die Entwicklung umfangreicherer Theorien oder technische Feinarbeit, welche den Rahmen dieses Artikels sprengen oder gar vom Kern des PvBT ablenken könnten. Als diesen Kern wollen wir die Tatsache betrachten, dass aus Bestandteilen einer einzigen Kugel durch geeignete Zusammensetzung zwei Kugeln entstehen können.
In Kapitel 2 werden einige klassische und als
Paradoxien des Unendlichen bekannte Beobachtungen erwähnt,
welche beispielsweise schon von Galilei [Ga] und Bolzano [Bo]
angestellt wurden. Sie liegen gedanklich exakt auf dem Weg zum PvBT
und können im Beweis erfolgreich eingesetzt werden. Außerdem werden fundamentale
Eigenschaften abzählbarer und überabzählbarer Mengen
wiederholt. Wer mit den grundlegenden Tatsache wie
Abzählbarkeit von und Überabzählbarkeit von
vertraut ist,
wird über die ersten Abschnitte rasch hinweggehen. Dennoch bilden sie
insbesondere ab 2.10 eine gezielte Vorbereitung auf das
Nachfolgende. Wer mehr wissen möchte, sei auf den ebenfalls in den Didaktikheften
erschienenen Artikel [Go] verwiesen, der ganz der
Mengenlehre gewidmet ist.
Kapitel 3 präsentiert den vollständigen Beweis des PvBT
in der Formulierung von 1.3.
Der wesentliche Durchbruch wurde 1914 von Hausdorff erzielt, siehe [H],
indem er eine paradoxe Zerlegung der Sphäre (Oberfläche der Kugel),
vermindert um eine abzählbare Menge, fand (vgl. 3.1).
Der entscheidende Schritt besteht erstens
in der zwar unanschaulichen aber trivial nachzuprüfenden Tatsache,
dass die von zwei Elementen frei erzeugte Gruppe (3.2)
eine paradoxe Zerlegung besitzt (3.3), und
zweitens in der Identifikation zweier Drehungen im
(3.6),
welche eine freie Gruppe erzeugen (3.7).
Damit kann die paradoxe Zerlegung der freien Gruppe auf typischen
(fixpunktfreien) Orbits (3.4) in kanonischer Weise zu einem
Beweis des Hausdorffschen Paradoxons herangezogen werden (3.5).
Zum Beweis des vollen PvBT sind dann nur noch vergleichsweise harmlose
Schritte nötig. Zunächst wird die abzählbare Ausnahmemenge
eliminiert (3.8), dann die erhaltene Zerlegung
der Sphäre in offensichtlicher
Weise für eine der Vollkugel ohne Mittelpunkt genutzt (3.9),
und schließlich wird noch der fehlende Mittelpunkt ergänzt (3.10).
Das abschließende Kapitel 4 präsentiert einige Gedanken, die sich unmittelbar ans PvBT anschließen, sowohl innermathematische als auch außermathematische. Innermathematisch ist die wichtigste Konsequenz des PvBT die Nichtexistenz gewisser Maße (4.1). Somit zeigt sich, dass das PvBT kein Kuriosum darstellt, sondern ein zentrales Resultat der Mathematik. Daran schließen einige Überlegungen an über das Verhältnis von Zählen (4.2) und Messen (4.3) aus mathematischer Sicht und über das Auswahlaxiom (4.4). Dann werden wichtige Unterschiede zwischen Mathematik und Physik anhand des Messens erörtert (4.5) und abschließend nochmals einige didaktische Aspekte besprochen (4.6).
Schon früh machten Philosophen und Mathematiker bei der Analyse des Unendlichen die Beobachtung bemerkenswerter Phänomene, welche in endlichen Bereichen nicht auftreten können, vgl. [Ga] und [Bo].
Obwohl die Menge
eine echte Teilmenge der Menge
ist, liegt es nahe, beide als gleich groß anzusehen
(in Zeichen
). Schließlich
lassen sich beide Mengen in gleicher Weise als
unendliche Folgen niederschreiben, gehen also durch die
bloße Umbenennung
der Elemente auseinander hervor.
Im Unendlichen muss der Teil also nicht unbedingt kleiner sein als das
Ganze.
Wir geben uns damit nicht zufrieden, sondern treiben die Paradoxie
um einen Schritt weiter. So bilden die geraden Zahlen
einerseits eine echte Teilmenge
der natürlichen
Zahlen
.
,
, entsteht aus
durch Weglassen
unendliche vieler Elemente, nämlich sämtlicher ungerader Zahlen
.
Andererseits füllen die Elemente von
wie die von
in genau derselben Weise wie die natürlichen Zahlen eine unendliche
Liste, sind also nicht wirklich weniger.
Wir können die Situation bereits im Sinn des
Titels lesen: Aus 1 wird 2 gemacht; nämlich aus einer unendlichen Menge
zwei, die gleich groß sind wie die ursprüngliche, formal
In moderner Sprechweise nennt man eine unendliche Menge abzählbar, wenn
sich ihre Elemente mit den natürlichen Zahlen durchnummerieren lassen,
wenn man also
Die Menge der natürlichen Zahlen ist also abzählbar
(
), ebenso wie die Menge
der geraden (
),
der ungeraden Zahlen (
),
der Quadratzahlen (
) oder
der Primzahlen.
Jede unendliche Menge enthält eine abzählbare Teilmenge.
(Der simple Beweis macht bereits vom sogenannten Auswahlaxiom,
vgl. Abschnitt 4.4, Gebrauch:
Man wähle zuerst
, dann
verschieden von
usw.,
induktiv also
verschieden von
.)
Gewissermaßen sind die abzählbaren Mengen also die kleinsten unendlichen
Mengen. Es gibt aber auch abzählbare Mengen, die auf den ersten Blick größer
als
erscheinen.
Relativ leicht sieht man, dass die Menge
aller ganzen Zahlen abzählbar ist.
Man kann in der Aufzählung nämlich immer abwechslend positive und
negative Zahlen verwenden:
,
also
für
und
für
.
Grob gesprochen (d.h. 0 vernachlässigend)
hat man damit zwei Kopien der natürlichen Zahlen
(nämlich
und
) in einer Kopie untergebracht.
Die Analogie zur Zerlegung aus 2.1 von
in gerade und
ungerade Zahlen liegt auf der Hand.
Nun stellen wir uns den Ehrgeiz, nicht nur zwei Kopien,
sondern sogar (abzählbar) unendlich viele zu einer zu komprimieren.
Dazu betrachte man zum Beispiel die Menge
aller
ganzzahligen Gitterpunkte in der Ebene, also aller Punkte
mit
. Für jedes festgehaltene
erhält man über
eine Kopie
der ganzen Zahlen. Offensichtlich
ist es möglich, alle diese Gitterpunkte in einer Folge
anzuordnen, indem man mit dem Punkt
beginnt, dann (in irgendeiner Reihenfolge) alle (insgesamt acht)
Punkte nimmt, wo die betragsmäßig größte Koordinate
oder
ist, also die Punkte
,
dann die (insgesamt 16) Punkte mit betragsmäßig größter Komponente
etc. Damit ist sogar allgemein
bewiesen, dass die Vereinigung (hier
)
von abzählbar vielen abzählbaren Teilmengen (hier die
,
) wieder abzählbar ist. (Ganz versteckt
und verkleidet fließt in der Aussage für Vereinigungen wieder
das Auswahlaxiom ein. Wer erkennt es?) Anders formuliert: Das kartesische Produkt
Eine interessante Folgerung ist die folgende: In der soeben konstruierten
Folge von Punkten in der Ebene interpretieren wir als 0,
mit
als rationale Zahl (Bruch)
,
lassen davon aber nur jene stehen, welche eine Zahl darstellt, die in
der Folge nicht schon vorher aufgetreten ist. In der verbleibenden
Folge kommt also jede rationale Zahl genau einmal vor. Somit erweist
sich auch die Menge
der rationalen Zahlen als abzählbar, obwohl
sie unter anderer Betrachtungsweise
scheinbar viel mehr Elemente anthält als
oder auch
:
Auf der Zahlengerade liegen zwischen je zwei aufeinanderfolgenden
ganzen Zahlen unendlich viele rationale.
Eine andere Variation ist die folgende: Gegeben ein Alphabet aus
endlich oder sogar abzählbar unendlich
vielen Buchstaben
. Wir fragen
uns, wieviele Wörter (das heißt endliche Folgen) wir aus diesen Buchstaben
bilden können. (Wir wollen auch das leere Wort
der Länge 0 zulassen.)
Nach Voraussetzung ist die Menge
aller Wörter der Länge 1
(die also aus einem Buchstaben bestehen) endlich bzw. abzählbar.
Die Wörter der Länge 2 entsprechen in offensichtlicher Weise
den Elementen des kartesischen Produktes
,
bilden nach 2.4 also ebenso eine abzählbare Menge
,
wie allgemein die Menge
aller Wörter der Länge
abzählbar ist.
Damit ist aber wieder nach 2.4 auch die Menge
sämtlicher
endlichen Wörter als Vereinigung der abzählbar vielen
höchstens abzählbaren Mengen
abzählbar.
(Für unendliche Wörter/Folgen siehe 2.8.)
Wir fassen bisher besproche abzählbare Mengen bzw.
Variationen davon zusammen:
Es scheint also nicht leicht, Mengen zu konstruieren, die nicht abzählbar sind. Die Klasse der abzählbaren Mengen ist nach unseren bisherigen Überlegungen nämlich sehr stabil gegenüber diversen scheinbar vergrößernden Operationen wie der Bildung von abzählbaren Vereinigungen und endlichen kartesischen Produkten.
Es war Cantors bahnbrechende Leistung zu erkennen, dass es
aber sehr wohl überabzählbare Mengen gibt. (Es ist keine
Übertreibung zu behaupten, dass die von Cantor begründete
Mengentheorie ihre Existenz genau dieser Tatsache verdankt.)
Und zwar bemerkte er, dass die Bildung der sogenannten
Potenzmenge , das heißt der Menge aller Teilmengen
von
, stets zu einer größeren Menge führt. Gäbe es nämlich
eine Zuordnung
zwischen
und
,
in welcher als
alle Teilmengen von
auftreten, so könnte man die Menge
aller
mit
betrachten. Ist
(so ein
gäbe es nach Voraussetzung), so wäre
genau dann, wenn
. Das ist absurd,
also kann es die gesuchte Zuordnung nicht geben.
Genau in diesem Sinne muss die Potenzmenge
also mehr Elemente
besitzen als die ursprüngliche Menge
. Insbesondere ist die
Potenzmenge einer unendlichen Menge niemals abzählbar, sondern
größer, also überabzählbar.
Wir wollen diesen Sachverhalt noch im Fall
genauer unter
die Lupe nehmen.
ist nach 2.7 überabzählbar.
Jeder Teilmenge
von
ist in natürlicher Weise
eine Folge
zugeordnet, indem man
für
und
für
setzt. Fassen wir solche 0-1-Folgen
wiederum auf als Binärdarstellungen von reellen Zahlen
Man nennt die (gemeinsame) Kardinalität = Mächtigkeit = Größe
dieser Mengen übrigens auch die
Kardinalität des Kontinuums. Es sei auf einige kurze Bemerkungen zur
Kontinuumshypothese am Ende von 4.4 verwiesen.
Wir halten fest: Das Einheitsintervall (und damit jedes
Intervall reeller Zahlen) ist überabzählbar. Desgleichen jede Menge,
in die ein Intervall eingebettet werden kann, also etwa jede eindimensionale
Kurve (zum Beispiel die Kreislinie ) und erst recht
(die
zweidimensionale Oberfläche einer Kugel) oder gar
(die
dreidimensionale Vollkugel). Diese Mengen sind also alle sehr groß
im Vergleich zu abzählbaren Mengen.
Aus 2.7 folgt, dass von
ausgehend
durch iterierte Potenzmengenbildung immer größere
Unendlichkeiten konstruiert werden können.
Die verschiedenen Unendlichkeiten steigen also selbst
unendlich an. Die Beschäftigung damit ist der Kern der Mengenlehre.
Die für uns wichtigen Mengen
,
,
,
erweisen sich aber
alle als genau von der Mächtigkeit des Kontinuums.
Dass sie mindestens so groß sind,
haben wir uns bereits überlegt; dass sie nicht größer sind, brauchen wir
nicht. (Wir überlassen den Nachweis dem interessierten Leser als sehr
instruktive Übung. Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch
auf den Satz von Schröder-Bernstein aufmerksam machen:
Ist
zu einer Teilmenge von
gleich mächtig und
zu einer
Teilmenge von
, dann sind
und
gleich mächtig.
Formal: Aus
und
folgt
.)
Nach diesem Exkurs in die Grundbegriffe unendlicher Mengen wollen wir bisher präsentierte Ideen noch in einigen konkreten Zusammenhängen wiederholen beziehungsweise modifizieren. Das wird sich für den Beweis des PvBT noch als nützlich erweisen.
Hilbert veranschaulichte einige der behandelten Phänomene mit einem
Bild, welches als Hilberts Hotel bekannt ist.
Man stelle sich dazu ein Hotel mit abzählbar unendlich vielen
Zimmern vor, welche alle besetzt sind. Kommt nun ein weiterer
Reisender an, der Unterkunft sucht, so kann ihm leicht geholfen
werden. Sind die Zimmer
mit
durchnummeriert, so muss lediglich
jeder Gast in das Zimmer mit der nächst höheren Nummer wechseln.
Damit wird das Zimmer
frei, und unser Neuankömmling kann einziehen.
Offenbar entspricht das genau der Beziehung
aus 2.1. (Es mag die Vorstellungskraft von Leser und Schüler anregen,
auch andere behandelte Paradoxien
des Unendlichen in den Kontext von Hilberts Hotel zu übertragen.)
Weil es auch für unsere späteren Zwecke nützlich ist, wollen wir uns
nun die Zimmer von Hilberts Hotel durch Punkte auf einer Kreislinie
dargestellt denken. Und zwar beginnen wir mit irgendeinem Punkt
.
Von diesem tragen wir einen Winkel
,
,
(etwa im Uhrzeigersinn) auf und markieren dort
.
Wir setzen in dieser Weise fort, markieren also
beim Winkel
. Irgendwann werden wir erstmals eine ganze Drehung
überschreiten. Wenn
nicht gerade
von der Gestalt
ist, werden wir aber nicht genau auf
treffen. Ist
(gekürzte Darstellung)
wird uns das immerhin noch nach
vollen Umläufen passieren.
Ist
jedoch irrational (nicht als Bruch
ganzer Zahlen darstellbar), so werden wir nie einen Punkt mehrmals markieren.
Dies soll in weiterer Folge vorausgesetzt werden.
Wir haben also die Menge der Zimmer als Teilmenge von
dargestellt,
man sagt auch in die Kreislinie
eingebettet. Dem großen Umzug
von Zimmer
nach Zimmer
entspricht jetzt einfach
eine Drehung
um den Winkel
. Der Punkt
wird
dadurch frei.
Bezeichne die Menge der
,
, und
den Rest der Kreislinie. Dann gilt offenbar die Darstellung
,
gleichzeitig aber auch
mit
jeweils disjunkten Teilmengen. Durch Anwendung der Drehung
auf die Menge
ist also ein Punkt abhandengekommen,
bzw., wenn man die Konstruktion umkehrt, dazugekommen.
Das ist das erste Beispiel einer paradoxen Zerlegung, in welcher
geometrische Objekte (Kreislinie) und größenerhaltende Bewegungen
(Drehungen) vorkommen, die dennoch Punkte gewissermaßen
herbei- oder wegzaubern.
Keine großen Schwierigkeiten macht die Übertragung auf den Fall, dass man
statt mit einem Punkt
mit einer beliebigen abzählbaren Teilmenge
der Kreislinie
beginnt. Wir wollen eine Drehung
um einen geeigneten Winkel
finden derart, dass iterierte Anwendung von
zu Mengen
führt, die wieder paarweise disjunkt sind.
Das funktioniert im Wesentlichen deshalb, weil uns viel
mehr
zur Auswahl stehen als Punkte
, die
Schwierigkeiten machen könnten.
Etwas genauer ausgeführt lautet das Argument wie folgt:
Besteht aus den Punkten
, so gibt es zu jedem Paar
von Indizes
und jeder Potenz
nur endlich viele Werte für
(nämlich
mit
) derart,
dass
. Zu jedem Tripel
gibt
es also nur eine endliche Menge
verbotener Werte für
.
Wir wissen bereits, dass
abzählbar ist. Daher ist die
gesamte Ausnahmemenge
als Vereinigung der abzählbar vielen endlichen
Mengen
abzählbar. Es muss daher überabzählbar viele
geben, von denen wir jedes wählen können.
Sei also so ein
festgehalten und bezeichne
die
Drehung um den Winkel
,
die
Vereinigung aller
,
, und
den Rest.
Dann haben wir die Darstellungen
und
,
wieder jeweils mit paarweise disjunkten Mengen.
Auch jede abzählbar unendliche Teilmenge
der Kreislinie kann also
her- bzw. weggedreht werden.
Ganz Ähnliches funktioniert, wenn wir statt der eindimensionalen
Kreislinie die zweidimensionale Sphäre
betrachten.
Sei eine beliebige höchstens abzählbare Menge
von Punkten
auf der Sphäre gegeben. Fassen wir gegenüberliegende (antipodische)
Punkte auf
zu Paaren zusammen, so erhalten wir überabzählbar
viele Punktepaare (andernfalls wäre nach früheren Ergebnissen
abzählbar, was nach 2.8 falsch
ist). Demnach gibt es Punktepaare, in denen
kein Partner in
liegt. Durch ein solches Punktepaar legen wir
eine Rotationsachse
. Nach derselben Überlegung wie in 2.12
kann man einen Winkel finden, sodass für die Rotation
um diesen Winkel mit Achse
alle Mengen
paarweise disjunkt sind. Wie für
induziert das auch Zerlegungen
und
.
In solchen Situationen wie den in den drei
letzten Abschnitten behandelten sprechen wir von
zerlegungsgleichen Mengen und schreiben
bzw.
.
Vermutlich wird der Leser das Paradoxe an den bisher behandelten Beispielen
bei weitem nicht so beeindruckend finden wie im PvBT. Das liegt
wohl daran, dass die Menge , die her- oder
weggezaubert werden kann, sehr klein (abzählbar) ist im Vergleich zu den
überabzählbaren Mengen
und
. Tatsächlich lässt sich in
maßtheoretischer Hinsicht damit auch nichts Außergewöhnliches gewinnen.
Die Menge
hat einfach das Maß 0.
Dennoch werden wir die gewonnen Einsichten noch erfolgreich einsetzen
können. Als wesentlichen Schritt in Richtung PvBT werden wir
nämlich das Hausdorffsche
Paradoxon beweisen, welches eine paradoxe Zerlegung von
liefert, wobei
abzählbar ist. Die Zerlegungsäquivalenz zu
wird dann zu einer paradoxen Zerlegung von ganz
führen.
Wie bereits angekündigt, werden wir zunächst eine paradoxe
Zerlegung von
konstruieren, wobei
eine geeignete
abzählbare Menge ist. Genauer: Wir werden
in paarweise
disjunkte Mengen
zerlegen und zu diesen
zwei Drehungen
und
finden derart, dass
Als werden wir eine Drehung um einen geeigneten
Winkel
mit der
-Achse als Rotationsachse wählen.
Ist
ein beliebiger Punkt auf der Sphäre, wobei wir nur
die beiden Fixpunkte, nämlich Nord- und
Südpol ausschließen, so zeigen die Überlegungen aus 2.11,
dass die Punkte
(der sogenannte
-Orbit von
) alle verschieden sind.
Entsprechendes gilt, wenn wir z.B. statt der
-Achse die
-Achse
als Rotationsachse wählen und die beiden Punkte verbieten, in welchen
sie
schneidet. Wir kommen darauf später zurück.
Es soll darauf hingewiesen werden, dass der
maßtheoretische Kern des PvBT (für die zweidimensionale
Kugeloberfläche statt für die dreidimensionale Vollkugel)
bereits mit dem Abschluss des Beweises des Hausdorffschen Paradoxons in
3.7 bewältigt sein wird. Gibt man nämlich der
überabzählbaren Menge das Maß 1, so wird man der abzählbaren
Teilmenge
sinnvollerweise nur das Maß 0 zuordnen können.
Denn jedes endliche Vielfache einer abzählbaren Menge ist wieder
abzählbar. Endliche Vielfache von
können also niemals
ganz
ausmachen. Wäre das Maß von
positiv, so wäre demnach
jenes von
größer als jedes endliche Vielfache dieser Zahl,
somit unendlich.
Was in der paradoxen Zerlegung auf ganz
noch fehlt, ist für den Maßtheoretiker also vernachlässigbar.
Insofern scheint es berechtigt, den Beweis des Hausdorffschen
Paradoxons als den Kern im Beweis des PvBT zu betrachten.
Wir fragen uns, was wir erhalten, wenn wir
zunächst nicht näher bestimmte Drehungen und
in beliebiger Reihenfolge und in positiver und negativer
Richtung auf
anwenden. Als
sogenannte Orbitpunkte erhalten wir also beispielsweise
,
,
etc.
Man beachte, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, dass manche dieser
Punkte übereinstimmen. Insbesondere gilt allgemein kein Kommutativgesetz.
Wollen wir die Situation formal fassen, bietet es sich an, die
Sprechweise aus 2.6 zu wählen. Wir haben also
(endliche) Wörter mit Buchstaben oder Symbolen
zu bilden.
Wir dürfen außerdem verlangen, dass
reduziert ist, das heißt,
dass die beiden Symbole
und
nicht unmittelbar hintereinander stehen, da man sie ja
sonst wegkürzen könnte. Die Menge all dieser Wörter trägt eine
Gruppenstruktur: Als Produkt zweier Wörter
und
haben wir einfach
das Kompositum
zu nehmen. Stoßen an der Schnittstelle zwei
Symbole
und
zusammen, dann können wir durch Wegkürzen
erzwingen, dass auch das Produkt ein reduziertes Wort ist.
Beispiel: Für
und
kürzen sich in
die letzten beiden Glieder von
gegen die ersten beiden von
weg, und wir erhalten
Zum Nachweis der Gruppeneigenschaften ist nur zu bemerken, dass
man in der beschriebenen Weise wirklich wieder reduzierte Worte erhält,
dass offenbar das Assoziativgesetz
gilt,
dass das leere Wort
die Rolle des neutralen Elements spielt
und dass jedes Wort
ein Inverses,
nämlich
besitzt.
(Hier ist natürlich
für
zu vereinbaren.)
Die Menge aller reduzierten Wörter mit der beschriebenen
Gruppenstruktur heißt auch die von den Symbolen
und
frei erzeugte Gruppe. Wenn wir kurz von der freien Gruppe sprechen,
werden wir immer diese Gruppe meinen.
Wegen
,
,
ist
nach 2.6 abzählbar. Von dieser Tatsache
werden wir wiederholt Gebrauch machen.
Eine kurze und etwas ungenaue Bemerkung zum Wort frei:
Wir können hier nicht auf die sehr
interessanten und allgemeinen Eigenschaften freier Gruppen (oder noch
allgemeiner: freier Objekte) eingehen. In unserem Kontext genügt es,
wenn man sich vorstellt, dass die freie Gruppe frei ist von
(einschränkenden) Gesetzen, die
nicht allein aus den Gruppenaxiomen folgen. So folgt beispielsweise das
Kommutativgesetz nicht allgemein und gilt tatsächlich nicht in .
Eine wichtige Vorstellung, die der Mathematiker mit dem Begriff
der Gruppe verbindet, besteht darin,
dass jedes Gruppenelement als Transformation
,
, der Gruppe auf sich selbst
interpretiert werden kann.
(Dieses Faktum ist auch als Darstellungssatz von Cayley bekannt,
wobei es vor allem um die Relation
geht.)
Diese Transformationen sind stets umkehrbar eindeutig, bewahren also
gewissermaßen alle Informationen. Bei kommutativen Gruppen wie
oder
sind die
Translationen (Verschiebungen) um die additive
Konstante
. Das entspricht der in diesem Fall unverfänglichen Intuition,
dass die durch Gruppenelemente induzierten Transformationen die
Größe von Mengen nicht verändern.
Der erste entscheidende Schritt für den
Beweis des RvBT ist die einfache Beobachtung, dass im Fall der
freien Gruppe etwas passiert, was dieser Intuition widerspricht.
Es liegt nämlich nahe, die Wörter in einzuteilen nach Anfangssymbol.
Bezeichne also
die Menge jener
, welche mit dem Symbol
beginnen,
so liegt die Partition
In der Definition der freien Gruppe mit den Erzeugenden und
wurde überhaupt nicht von einer Interpretation dieser beiden Elemente
als Rotationen oder auch nur als Abbildungen Gebrauch gemacht.
Die freie Gruppe ist in diesem Sinne ein rein formales, nur Symbole
und deren Manipulation voraussetzendes Objekt.
Die für uns entscheidende Frage ist, ob sich die Orbits
eines Punktes
unter
so verhalten können wie die freie Gruppe
selbst.
Dabei fassen wir die Worte
jetzt als Rotationen
im
auf, welche sich aus den erzeugenden Rotationen
und
und deren Inversen zusammensetzen. Wunschgemäßes Verhalten tritt
offenbar genau dann auf,
wenn
nur bei Übereinstimmung der reduzierten Wörter
als solcher vorliegt. Da die Gleichung
mit
äquivalent ist, kann man die Bedingung auch so ausdrücken:
nur für
. Wir sagen in diesem Fall, dass
kein
Fixpunkt von
ist und wollen den Orbit
fixpunktfrei oder typisch nennen.
Für einen typischen Orbit können wir die paradoxe Zerlegung von
aus 3.3
offenbar unmittelbar übertragen zur entsprechenden paradoxen Zerlegung
Die paradoxe Zerlegung eines typischen Orbits lässt sich in (fast)
trivialer Weise auf die Vereinigung aller typischen Orbits übertragen.
Zunächst ist klar, dass
und
entweder
disjunkt oder identisch sind.
(Sei
, dann folgt aus
auch
, also
. Analog gilt
, also
.)
ist also die disjunkte Zerlegung sämtlicher Orbits.
Aus jedem typischen Orbit
sei nun ein
ausgewählt.
Als
wählen wir die Vereinigung aller
,
wobei
sämtliche typischen Orbits durchläuft. In völlig analoger
Weise definiert man
,
,
und
und erhält eine
paradoxe Zerlegung der Vereinigung
aller typischen Orbits.
(Dass es zu jeder disjunkten Menge nichtleerer Mengen so eine
Auswahlfunktion gibt, ist genau die Aussage des
sogenannten Auswahlaxioms aus der Mengenlehre.
Manche Mathematiker legen Wert darauf, penibel anzugeben,
wenn sie dieses Axiom verwendet haben. Einzelne Vereinsamte lehnen seine
Verwendung sogar generell ab. Doch mehr davon in 4.4.)
Wir sind mit dem Beweis des Hausdorffschen Paradoxons fertig,
wenn wir zeigen können, dass die Restmenge
bei geeigneter Wahl von
abzählbar ist.
Hierzu eine geometrische Überlegung.
Jedes repräsentiert eine Bewegungung, welche als Komposition
von
und
und ihren Inversen zustandekommt.
Angenommen, es handelt sich dabei nicht um die identische Abbildung
,
welche alle Punkte fest lässt. Sei dennoch
ein
Fixpunkt von
. (Die aus der Linearen Algebra bekannte
Tatsache, dass jedes derartige
in
wirklich zwei Fixpunkte hat,
benötigen wir hier nicht einmal.) Dann handelt es sich bei
offenbar um eine Drehung um eine Rotationsachse, die
durch
und den gegenüberliegenden (antipodischen) Punkt
geht.
Alle übrigen Punkte werden durch
bewegt und bleiben nicht fix.
Jedes
hat also nur zwei Fixpunkte.
Angenommen, nur das leere Wort stellt die identische Abbildung dar,
so liefern die abzählbar vielen
also nur abzählbar viele Fixpunkte
.
Jedes solche
hat einen höchstens abzählbaren Orbit
,
somit machen die nicht typischen Orbits nur eine abzählbare Ausnahmemenge
aus, und der Beweis ist fertig.
Offen bleibt also lediglich die Frage,
ob und
geeignet gewählt werden
können derart, dass tatsächlich nur das leere Wort die identische
Abbildung darstellt. Es erscheint sehr plausibel, dass dies möglich ist.
Schließlich müssen nur die abzählbar vielen Bedingungen
,
, erfüllt werden,
während für die Rotationswinkel und die Winkel der beiden Rotationsachsen
zueinander überabzählbar viele Werte zur Verfügung stehen.
Wie die nachfolgenden Argumente zeigen, führt uns diese
Plausibilitätsüberlegung nicht in die Irre.
Wir wollen uns aber mit dem Plausibilitätsargument aus 3.5
nicht zufriedengeben. Glücklicherweise lassen sich sehr einfach
zwei konkrete Wahlen von und
angeben, die
freie Erzeugende einer freien Untergruppe der vollen Drehgruppe sind.
Und zwar kann man zwei Rotationen mit orthogonalen Achsen
und dem Rotationswinkel
wählen.
Sei
durch folgende
Gleichungen definiert.
Ganz analog überlegt man sich, dass die Drehung
um die
-Achse um denselben Winkel
durch die Gleichungen
Außerdem sei darauf hingewiesen, dass bei der Umkehrung der
Rotationsrichtung, d.h. bei Ersetzung von und
durch
bzw.
in den Abbildungsgleichungen
nur die Vorzeichen der Ausdrücke vom Betrag
geändert werden müssen.
Um zu beweisen, dass die angegebenen Drehungen und
wirklich eine freie Gruppe erzeugen, müssen wir zeigen, dass
jedes reduzierte Wort
eine
Rotation verschieden von der Identität darstellt. Dafür genügt es,
einen einzigen Punkt zu finden, der nicht auf sich abgebildet wird.
Hört
mit einer positiven oder negativen Potenz von
auf, so erweist sich der Punkt
als geeignet; im anderen
Fall, dass nämlich
mit einer positiven oder negativen Potenz
von
aufhört, muss dann aus Symmetriegründen der Punkt
die entsprechende Eigenschaft haben. Wir dürfen uns für den Beweis
daher auf den ersten Fall beschränken.
Durch vollständige Induktion nach der Länge von
überzeugt man
sich davon, dass
gilt mit ganzen
Zahlen
. Für
ist das unmittelbar durch Einsetzen
in die Abbildungsgleichungen aus 3.6 ersichtlich.
Für
hat man die vier möglichen Fälle für
das erste Symbol
in
zu unterscheiden.
Mit
(Induktionsannahme) erhält man
durch Einsetzen in die Abbildungsgleichung von
im Fall
die Rekursion
,
,
; im Fall
entsprechend
,
,
. Das zeigt die Ganzzahligkeit von
.
Offen ist nur noch
.
Dazu genügt der Nachweis, dass
nicht durch 3 teilbar ist.
Besteht
nur aus einem Symbol, welches
dann in unserem Fall
sein muss, so ist
tatsächlich nicht durch 3 teilbar.
Ist das Wort
länger, so sind
für die ersten zwei Symbole
in
vier Möglichkeiten zu unterscheiden, nämlich
,
,
oder
.
Im ersten Fall erhält man aus der Rekursion ein durch 3 teilbares
, also kann mit
auch
nicht durch 3 teilbar
sein. Ähnlich verhält sich der zweite Fall mit
und durch
3 teilbarem
. In den verbleibenden beiden Fällen muss man
in der Rekursion einen Schritt weiter zurückgreifen und
heranziehen. In beiden Fällen
erhält man (hier für den dritten Fall durchgeführt) mit Hilfe der Rekursion
Damit ist der Beweis des Hausdorffschen Paradoxons, wie es in 3.1 formuliert wurde, erbracht.
Der Schritt zu einer paradoxen Zerlegung der gesamten Kugeloberfläche
liegt auf der Hand. Wir wissen nämlich einerseits aus den letzten
Abschnitten, dass es eine abzählbare Teilmenge gibt,
so dass
eine paradoxe Zerlegung besitzt.
Andererseits wissen wir aus 2.13 und 2.14,
dass
zerlegungsäquivalent
sind. Wir müssen uns also nur überlegen, dass sich die Existenz
paradoxer Zerlegungen auf zerlegungsäquivalente Objekte überträgt.
Dies zeigt die folgende Überlegung, in der wir bewusst auf
formalere Notationen verzichten.
Seien also zerlegungsäquivalent. Der
Zerlegungsäquivalenz entsprechen Zerlegungen von
und
in
gleich viele Teile
bzw.
, von denen entsprechende durch
Bewegungen
(in unserem Fall durch Drehungen) ineinander übergeführt
werden können. Gleichzeitig besitze
eine paradoxe Zerlegung
in Mengen
und
, wo die Bewegungen
und
auftreten. Will man eine paradoxe Zerlegung von
konstruieren,
baut man seine Bruchstücke
zunächst mit den
zu
um.
Aus
erzeugt man mit den
und
zwei Kopien von sich selbst. Diese kann mit den
jeweils wieder
zu Kopien von
zurückbauen. Da in allen drei Schritten
Zerlegungen nur in endlich viele Teile vorkommen, genügt also
eine Zerlegung von
ebenfalls in endlich viele Teile, um das skizzierte
Programm mit entsprechenden Bewegungen durchzuführen.
Die im letzten Abschnitt gefundene paradoxe Zerlegung von
überträgt sich in offensichtlicher Weise auf
,
(
), die Vollkugel ohne Mittelpunkt,
indem man an jedem Punkt
auf der Kugeloberfläche die Verbindungslinie zum Mittelpunkt der
Kugel anheftet. Die beteiligten Rotationen können direkt übernommen
werden.
Etwas formaler sieht das so aus. Sei
Nach denselben Überlegungen wie in 3.8 genügt es
auch hier, wenn wir zeigen.
Dabei beziehen wir uns wieder auf die Paradoxien des Unendlichen,
insbesondere jene aus 2.11. Diese besagt, dass die Kreislinie
zerlegungsäquivalent zur Kreislinie mit einem fehlenden Punkt ist.
Wir zerlegen daher
in irgendeine Kreislinie,
welche durch den Mittelpunkt verläuft, und den Rest. Diesen
Rest lassen wir unverändert. Die Kreislinie bleibt zerlegungsäquivalent,
wenn wir einen Punkt herausnehmen. Also gilt tasächlich
, und der Beweis des PvBT ist erbracht.
(Man beachte, dass bei der Rotation der verwendeten Kreislinie
eine Rotation im Spiel ist, deren Achse nicht durch den Ursprung geht.)
Die wichtigste Konsequenz des PvBT besteht in der Einsicht,
dass nicht allen Teilmengen von
sinnvoll ein Volumen
zugewiesen werden kann.
Dabei verstehen wir unter sinnvoll, dass wenigstens
die Eigenschaften Positivität (
,
),
Additivität (
sofern
),
Bewegungsinvarianz (
für Bewegungen
und Normierung (
,
Einheitswürfel)
erfüllt sein sollen, so ist das PvBT der schlagende Beweis dafür,
dass unseren Wünschen Grenzen gesetzt sind.
Wir gehen von einer beliebigen Kugel mit positivem und
endlichem Radius aus. Ist
ein normiertes Maß, so hat
einen positiven und endlichen Wert.
Wir betrachten eine paradoxe Zerlegung
Man beachte, dass diese Konsequenz des PvBT insofern stärker ist als
das Vitalische Argument (vgl. [V]) für die Existenz nicht Lebesgue-messbarer
Mengen in , als das PvBT nicht nur
-additive
(d.h. abzählbar additive), sondern auch endliche
additive Maße ausschließt.
(Das Argument von Vitali lässt sich transparenter für die Kreislinie
statt für das Einheitsintervall
formulieren
und lautet folgendermaßen:
Auf
betrachte man die abzählbare Gruppe
der Drehungen
um rationale Bruchteile
der vollen Rotation um
.
Bezüglich
zerfällt
in Orbits
. Aus jedem Orbit wählt man einen
Punkt
aus. Sei
die Auswahlmenge aller
und
,
, das Bild von
unter der Drehung um
.
Dann bilden diese
eine abzählbare Partition von
in
bewegungsgleiche Kopien von
. Wäre
ein abzählbar additives
und drehinvariantes Maß auf
, so sind zwei Fälle zu unterscheiden.
impliziert
,
impliziert
.
kann also in keinem Fall zu
normiert werden.)
Notwendig für das stärkere PvBT war, dass im
auch nicht kommutierende
Bewegungen auftreten, was bei den Translationen in
oder Drehungen von
nicht der Fall ist.
Tatsächlich zeigt eine allgemeinere Theorie paradoxer Zerlegungen, dass die wichtige Rolle, welche in unserem Beweis die (hochgradig nichtkommutative) von zwei Elementen frei erzeugte Gruppe spielt, nicht zufällig ist, sondern im Wesen (gewisser) paradoxer Zerlegungen liegt.
Hier sei noch der fundamentale Satz von Tarski (vgl. [T]) erwähnt, welcher besagt, dass immer, wenn paradoxe Zerlegungen nicht existieren, nichttriviale endlich additive Maße konstruiert werden können. Der Beweis dafür würde den hier gegebenen Rahmen allerdings sprengen.
Mancher Leser mag versucht sein, das PvBT zur Formel zu
komprimieren. Das ist aber nicht zulässig.
Die präzise Formulierung des PvBT (wie etwa in 1.3)
ist nämlich eine recht komplizierte Aussage,
in der Begriffe wie Punkte, Bewegungen, Drehungen, Teilmengen
etc. vorkommen. Es wurde aber nirgends die Gleichheit
behauptet.
Was hätte ein Beweis der Implikation
für Konsequenzen?
Glücklicherweise ist die Mengenlehre so konstruiert, dass mit ihren
Mitteln der Satz leicht bewiesen werden kann
(vgl. auch nächster Abschnitt). Weniger leicht, aber dennoch
schlüssig war der (stark mengentheoretisch geprägte) Beweis des PvBT.
Wäre auch die Implikation
beweisbar,
so hätten wir neben
auch den Satz
, was einen Widerspruch
bedeutete. Nach dem logischen Prinzip ex falso quodlibet
folgt aus einem Widerspruch aber Beliebiges. Also wäre jede
auch noch so absurde Aussage, welche sich überhaupt nur sinnvoll
mit den vogegebenen sprachlichen Mitteln (z.B. denen der Mengenlehre)
formulieren lässt, beweisbar. Damit wäre aber das übliche
mathematische System in seiner anerkannten Form unbrauchbar.
Da wir das System nicht grundlegend umstellen wollen, hoffen
wir nicht, dass
bewiesen werden kann.
Eine Konsequenz des Unvollständigkeitssatzes von Gödel besteht
darin, dass es mit den Mitteln einer widerspruchsfreien
mathematischen Theorie nicht möglich ist, ihre eigene
Widerspruchsfreiheit zu beweisen. In diesem Sinne müssen
wir uns also mit der Hoffnung begnügen, dass wir nicht
zu Widersprüchen gelangen. Gewissheit gibt es nicht, es sei denn
wir lassen wesentlich stärkere Mittel zu. Diese bestünden aber in
mathematischen Annahmen, die nicht mehr Rechtfertigung
besitzen als die schlichte Zuversicht, dass die üblichen Voraussetzungen
(die mengentheoretischen Axiome, siehe
auch 4.4) widerspruchsfrei sind.
In den obigen Erörterungen ist die Frage nach einem
mengentheoretischen Beweis für aufgetaucht.
Um einen solchen zu führen, müssen die Objekte 1 und 2 definiert
sein. In der mengentheoretisch fundierten Mathematik hat es sich als
naheliegend und praktisch
erwiesen, die natürlichen Zahlen so zu definieren,
dass jedes
gleich der Menge seiner Vorgänger ist.
(Vor allem in Hinblick auf unendliche Ordinal- und Kardinalzahlen
erweist sich dieser Zugang zusammen mit dem zum Auswahlaxiom
äquivalenten Wohlordnungssatz als sehr mächtig.)
Damit ergibt sich
als leere Menge,
und
. Wäre
,
so müssten die entsprechenden Mengen genau dieselben Elemente
besitzen. Insbesondere müsste das Element
auch in 1 selbst enthalten sein. 1 enthält nur das Element
,
also folgt
, d.h.
.
Die leere Menge
enthält definitionsgemäß aber keine
Elemente, Widerspruch.
Vermutlich wird dieser Beweis als nicht sehr befriedigend empfunden, weil alles von einer willkürlichen Definition der natürlichen Zahlen abhängt. Tatsächlich gibt es hieraus einen Ausweg, wenn man darauf verzichtet, die natürlichen Zahlen als fest definierte Objekte aufzufassen:
Wir versuchen nicht, die Zahlen
selbst zu definieren,
sondern lediglich festzulegen, was es bedeutet, wenn wir sagen:
Es gibt genau
Objekte mit der Eigenschaft
.
(Wir schreiben
, falls
die Eigenschaft
besitzt.)
Für
genügt es zu sagen, es gibt keine solchen Objekte.
Für
: Es gibt ein
mit
, und für alle
mit
folgt
. Für
: Es gibt Elemente
mit
und
, und für jedes
mit
folgt
oder
. (Es ist klar wie dies auf höhere Werte von
übertragen werden kann.) Das Wesentliche bei diesen Formulierungen ist,
dass nur rein logische Sprachelemente wie Negation, Folgerung,
die logischen Quantoren für alle und es gibt etc. vorgekommen sind
sowie die Identität
. Damit ist alles zurückgeführt auf die
fundamentale Frage, ob zwei Objekte identisch sind oder nicht.
Man beachte, dass mit dieser Methode für jede einzelne natürliche
Zahl auf rein logischem Wege definiert werden kann,
wann die Anzahl gewisser Objekte
ist. Nicht jedoch
kann damit
, geschweige denn so etwas wie die Menge aller natürlichen
Zahlen (aktual unendlich) als eigenständiges Objekt definiert werden.
Wie geht der Mathematiker an die Aufgabe des Messens heran? Der Erfolg seiner Disziplin hängt nicht nur von der strengen Schlüssigkeit seiner Beweise ab, sondern, damit diese überhaupt erst einen Sinn haben, von der klaren Definition seiner Objekte. Will er das Volumen (Maß) eines gegebenen geometrischen Körpers bestimmen, so muss er zunächst einmal definieren, was er unter geometrischem Körper und Volumen überhaupt versteht. Dabei hat die Definition anders als in der Physik zu erfolgen (vgl. 4.5).
Die mathematisch erfolgreichste Antwort auf die Frage, was ein Maß sei,
gibt die Mengenlehre.
Eines ihrer wesentlichen Merkmale ist, dass all ihre Objekte als
Mengen gedeutet werden. Tatsächlich haben wir ja auch die Kugel ,
um deren Zerlegung es im PvBT gegangen ist, als Menge von Punkten
im Raum aufgefasst. (Wie diese Punkte und ihre Koordinaten selbst
wiederum als Mengen gedeutet werden können,
spielt in unserem Kontext keine bedeutende Rolle, wir gehen daher nicht
näher darauf ein. Immerhin haben wir in 4.2
kurz angedeutet, wie man natürliche Zahlen als Mengen interpretieren kann.)
Das Volumsmaß ist also mathematisch gesehen eine Abbildung ,
welche gewissen Teilmengen
des Raumes
(insbesondere Würfeln, Kugeln etc.) eine reelle Maßzahl
(oder auch
) zuordnet.
Messen im mathematischen Sinn hat daher zumindest zwei Aspekte:
Für den Ingenieur ist der zweite Punkt der spannendere, für den Mathematiker eher der erste; auch wenn er die wichtige Aufgabe hat, Berechnungsmethoden für den Ingenieur zu entwickeln.
Da sich der Artikel [We] in diesem Band viel ausführlicher
mit Inhalt und Maß auseinandersetzt, begnügen wir uns hier mit
kurzen Andeutungen. Bei der Definition der Werte beginnt man
zunächst zum Beispiel mit der Forderung
für den Einheitswürfel
.
Dieser Wert muss definiert werden, er kann nicht aus physikalischen
Sachverhalten abgeleitet werden.
Wie auch schon in Abschnitt 4.1 erwähnt,
wünscht man sich von außerdem gewisse Eigenschaften wie
Positivität
,
und Additivität, d.h.
für
.
Entscheidend sind im
(wie in allen euklidischen Räumen
oder allgemeiner in Gruppen) auch Invarianzen
der Form
für Translationen oder beliebige
Bewegungen
. Im Beweis des PvBT haben solche Abbildungen
tatsächlich eine wesentliche Rolle gespielt.
Aus den drei Bedingungen Additivität, Bewegungsinvarianz und Normierung
folgt vielerlei. So ergibt sich, dass der Einheitswürfel
in acht Teilwürfel
mit halber Seitenlänge zerfällt, deren Maß wegen
der Translationsinvarianz von
untereinander gleich und deren Summe
wegen der Additivität gerade
sein muss, also
.
Ähnlich ergibt sich eindeutig das Volumen noch kleinerer Würfel.
Diese wiederum können verwendet werden, um Kugeln und viele andere Körper
mit beliebig kleinem Fehler von innen zu füllen oder von außen zu
umschreiben. Das Volumen
des Körpers muss wegen Additivität und
Positivität von
zwischen diesen beiden Approximationen liegen;
also etwa
, wenn
die innere und
die äußere Approximation von
bezeichnet.
Zeigt man, dass
und
beliebig nahe
beisammen liegen können, bleib für
nur ein einziger möglicher
Wert dazwischen. Im Falle einer Kugel
mit Radius
kann man
dann die bekannte Formel
beweisen.
(Das ist aber gar nicht so trivial!)
Aus unseren Überlegungen folgt, dass, sofern es überhaupt eine sinnvolle
Möglichkeit gibt, Kugeln etc. ein Volumen zuzuweisen, dieses
aufgrund unserer Forderungen an eindeutig
bestimmt ist. Wir müssen hier auf den zwar nicht
schwierigen, aber doch einigermaßen langwierigen Beweis verzichten,
dass diese Zuweisung auch wirklich
möglich ist. Das heißt, dass die Forderungen, die wir an
gestellt
haben, nicht zu Widersprüchen führen.
Man sieht leicht, dass sich mit den skizzierten Methoden nicht für alle
Teilmengen von
der Wert
eindeutig ergibt.
Das klassische Beispiel hierzu ist die Menge der Punkte im
Einheitswürfel
mit rationalen Koordinaten. Einerseits hat kein
noch so kleiner Würfel mit positivem Volumen darin Platz.
Also liefert die innere Approximation den Wert 0. Umgekehrt muss jede
endliche Überdeckung von
mit Würfeln bereits ganz
überdecken,
als äußere Approximation also mindestens
liefern.
Damit bleibt zwischen 0 und 1
eine Lücke der Unbestimmtheit übrig. Diese kann bei diesem
überbrückt werden, wenn man die Additivität von
zur
-Additivität verschärft. Man argumentiert:
enthält nur
abzählbar viele Punkte, jeder davon hat Maß 0, ihre abzählbare Summe
soll sich daher auch nur zu 0 aufaddieren. Man erhält also
.
Dieser Zugang reflektiert die Vorstellung, dass abzählbare
Mengen im Vergleich zu überabzählbaren verschwindend klein sind.
Der Nachweis für die Existenz eines solchen
-additiven
Maßes zeigt natürlich mehr als jener für die endliche
Additivität, ist aber auch dementsprechend schwieriger.
Aus 4.1 wissen wir dass bezüglich eines
-additiven
Maßes nicht nur in
, sondern schon in
nichtmessbare
Mengen existieren. Deshalb sind die grundsätzlichen
Schwierigkeiten durch Ausweitung auf
-Additivität
nur verschoben, nicht aber aufgehoben.
Als Konsequenz unserer Überlegungen erkennen wir, dass Zählen und Messen begrifflich sehr unterschiedliche Operationen sind. Bestenfalls kann das Zählen als sehr einfacher Spezialfall des Messens interpretiert werden, wo als Maßzahlen nur die natürlichen auftreten und als invariante Transformationen beliebige bijektive (umkehrbar eindeutige) Abbildungen zugelassen sind. Wir fassen einige Unterschiede zusammen:
Es ist unvermeidlich, noch ein paar Bemerkungen über das Auswahlaxiom (Axiom of Choice, AC) zu verlieren und über seine Rolle im Beweis des PvBT und in verwandten Resultaten der Maßtheorie. Tatsächlich kann man zeigen, dass ein Beweis des PvBT ohne Auswahlaxiom grundsätzlich unmöglich ist. Lässt man eine Verletzung des Auswahlaxioms zu, so kann man nämlich, wie Solovay in [So] gezeigt hat, widerspruchsfrei annehmen, dass alle Teilmengen reeller Zahlen messbar sind. Allerdings liegt das daran, dass man ohne Auswahlaxiom die nicht messbaren Mengen nicht finden kann und nur deshalb auf keinen Widerspruch stößt.
Es wird oft nicht darauf hingewiesen, dass man statt des
Auswahlaxioms mit gleichem Recht auch andere Axiome der Mengenlehre
für das PvBT verantwortlich machen könnte. Ohne Potenzmengenaxiom
beispielsweise könnte man keine überabzählbaren Mengen konstruieren
(vgl. 2.7), also weder noch die Kugel.
Ohne Unendlichkeitsaxiom bliebe man sogar schon im Endlichen stecken.
Damit hätte man überhaupt sämtliche Paradoxien des Unendlichen verbannt.
Und auch das Vereinigungsmengenaxiom wird zur Konstruktion
wenigstens scheinbar großer Mengen herangezogen.
Trotzdem hat gerade das Auswahlaxiom vor allem zu Beginn des
20. Jahrhunderts so viele Diskussionen entfacht:
AC: Ist eine Menge von nichtleeren und paarweise disjunkten Mengen
, so gibt es eine sogenannte Auswahlmenge
, welche aus jedem
genau ein Element (einen Repräsentanten) enthält.
Wie kann eine so plausible Annahme auch heute noch manche Gemüter erhitzen? Das erscheint sehr plausibel, dennoch haben die Diskussionen darüber Tradition. Im Zusammenhang mit dem PvBT, in dessen Beweis wir AC ja verwendet haben (nämlich in 3.5), könnte man zunächst einwenden, dass die Aussage des PvBT zu paradox ist. Das hieße aber, den Standpunkt (= Gesichtskreis vom Radius 0) einnehmen, dass nicht sein könne, was nicht sein darf. Wir hoffen, dass der Leser den Beweis - auch wenn er ihn vielleicht nicht in allen Details überprüft hat - als überzeugend nachvollziehen konnte. Eine eingehendere Analyse ist also gefragt.
Ein etwas subtilerer Einwand, der das Wesen des Auswahlaxioms
und auch des PvBT besser trifft, besteht in der Kritik, dass die Auswahlmenge
lediglich als existent gefordert wird, dass aber keine nähere
Beschreibung mitgeliefert wird. Andere Axiome der Mengenlehre,
die zum Beispiel die Existenz von Vereinigungs- oder Potenzmengen
sichern, scheinen diesen Mangel nicht zu haben.
Hier wird aber die Auffassung vertreten, dass diese Unterschiede nur
gradueller Art sind. Mathematische Objekte (und vermutlich alle
Objekte unseres Denkens) sind stets mit dem erkenntnistheoretischen
Mangel behaftet, dass wir von ihnen nur gewisse Eigenschaften kennen
und nicht alle, geschweige denn das von Kant als unerkennbar
diagnostizierte Ding an sich. So wissen wir von der Auswahlmenge
im Wesentlichen nur das, was uns das Auswahlaxiom liefert. Genauso wissen wir
durch Knochenfunde von Urmenschen auch nicht, in welcher
Sprache sie sich unterhalten haben. Dennoch zweifeln wir nicht an
ihrer prähistorischen Existenz.
In mancherlei Hinsicht kann man die Rolle des Auswahlaxioms in der Mathematik auch mit der des Teleskops in der Astronomie vergleichen: Man kann wesentlich mehr damit sehen, auch wenn die betrachteten Objekte dadurch im wörtlichen Sinn um nichts greifbarer werden.
Außerdem muss betont werden, dass sich die Mathematik
im Unterschied zur Paläoontologie oder auch zur Astronomie
grundsätzlich nur mit ideellen Objekten beschäftigt,
von denen nur gewisse Eigenschaften relevant sind.
Beispiel: Beim Begriff der Zahl 2 kommt es darauf an, dass sie z.B. der Summe entspricht; wir kümmern uns aber nicht um ihre Farbe,
Laune, etc.
Angemessen gegenüber Auswahl- wie auch anderen Axiomen der Mengenlehre oder Mathematik generell mag es daher sein, wenn man sie als explizit formulierte Denkfreiheiten ansieht, nicht jedoch als gratis Erkenntnisquelle für die empirische Wirklichkeit. Der Gegenstand der Mathematik geht nämlich über die Erfahrungswelt und sogar über den Bereich des Vorstellbaren hinaus und erschließt sich die schillernde Welt des Denkmöglichen. (In [M] ist der Mann mit dem Möglichkeits- statt Wirklichkeitssinn nicht zufällig Mathematiker!) Wer mathematische Axiome aus metaphysischen oder ideologischen Gründen ablehnt, spricht also Denkverbote aus. Wer hingegen untersucht, welche Ergebnisse auch ohne Verwendung gewisser Prämissen und Axiome erzielbar sind und welche nicht, betreibt seriöse Mathematik, möglicherweise auf allerhöchstem Niveau.
Das dies keine leeren Worte sind, lässt sich sogar durch mathematische Ergebnisse belegen: Gödel zeigte, dass das Auswahlaxiom zu keinen Widersprüchen führt (also denkbar ist), sofern nur die übrigen und weit weniger diskutierten Axiome der gängigen Mengenlehre widerspruchsfrei sind. Aber auch die Verletzung des Auswahlaxioms ist widerspruchsfrei denkbar, wie später Cohen gezeigt hat. Damit liegt eines der prominentesten Beispiele eines sogenannten Unabhängigkeitsresultats vor.
Vollkommen analog dazu (auch was die Rollen von Gödel und Cohen betrifft) ist die Situation hinsichtlich der sogenannten Kontinuumshypothese. Hilbert hob sie im Jahre 1900 sogar als das erste und fundamentalste der berühmten 23 Probleme hervor, deren Beantwortung er als zentrale Aufgabe für das damals bevorstehende 20. Jahrhundert betrachtete. Die offene Frage lautet: Gibt es überabzählbare Mengen, die echt kleiner als das Kontinuum sind? Auch diese Frage erwies sich als mit den gängigen Axiomen der Mengenlehre nicht entscheidbar.
Im Zusammenhang mit dem PvBT scheint es nicht unwesentlich, den Unterschied zwischen mathematischen und physikalischen Volumsbegriffen herauszuarbeiten. Dem mathematischen Zugang war Abschnitt 4.3 gewidmet. Doch was versteht der Physiker unter dem Volumen z.B. einer Kugel? Der Leser möge innehalten und selbst nach einer Antwort suchen!
Eine physikalische Möglichkeit der Volumsmessung ist die folgende: Man taucht den Körper in einen quaderförmigen Behälter mit Wasser, dessen Grundfläche ein Quadrat mit Seitenlänge 1 ist, und misst den Anstieg des Wasserspiegels. Die Maßzahl dieses Anstiegs in Längeneinheiten stimmt dann mit der Maßzahl des Volumens des Körpers in Volumseinheiten überein.
Dieses Verfahren führt die Messung eines Volumens auf die einfachere Messung einer Länge zurück. Es setzt allerdings voraus, dass das Wasser auf diese Art nicht komprimiert wird, d.h. sein Volumen beibehält. Aber damit ist ja auch bereits ein Volumsbegriff vorausgesetzt! Die Katze beißt sich also in den Schwanz. Aus der Sicht des Physikers ist das aber nicht so tragisch. Entscheidend ist für ihn, dass die Wiederholung des beschriebenen Messvorgangs immer wieder zum selben Ergebnis führt. Damit ist ein praktikabler Kontext hergestellt, in dem von einer physikalischen Größe Volumen gesprochen werden kann. Dass das Experiment tatsächlich immer dasselbe Ergebnis liefert, ist eine empirische (aus der Erfahrung stammende) Tatsache, die durch widersprechende Erfahrungen prinzipiell auch widerlegt werden könnte. Das entspricht exakt der Popperschen Forderung nach Falsifizierbarkeit von Aussagen empirischer Wissenschaften. Mathematische Aussagen sind aber von anderem Charakter. Sie beschreiben das auf empirische Art nicht bestimmbare Wesen von Begriffen, die vor allem in logischem Kontext ihren Sinn entfalten.
Doch ist noch ein Wort zur physikalischen Längenmessung angebracht, auf welche wir oben die Volumsmessung zurückgeführt haben. Was tun wir denn, wenn wir eine Länge mit einem Maßstab messen? Wir bewegen zuerst den Maßstab zum zu vermessenden Gegenstand und führen dann einen Vergleich durch. Es wird also auch hier eine (empirisch gerechtfertigte) Invarianz von Längenmaßen unter Bewegungen vorausgesetzt. Man mache sich den Unterschied zu den begrifflich bestimmten Invarianzen eines mathematischen Längenbegriffs klar!
Dass diese Überlegungen keine müßigen Haarspaltereien sind, zeigt sich in spektakulärer Weise in der empirisch mittlerweile in höchstem Maße gesicherten Einsteinschen Relativitätstheorie. Sie impliziert nämlich, dass genau die unterstellten Invarianzen von Länge (und Zeit) verlorengehen, wenn sehr große Geschwindigkeiten oder sehr starke Gravitationsfelder wirksam werden. Dennoch steht das nicht im Widerspruch zur Mathematik. Man muss nur eine kompliziertere Raumstruktur als Modell verwenden. Bezeichnend ist, dass die wesentlichen Ideen dazu auf den Mathematiker Riemann zurückgehen, der ungefähr ein halbes Jahrhundert vor Einstein wirkte und (wie dieser übrigens auch) seine Ideen seiner Phantasie und keinen empirischen Messdaten verdankte.
Die großen Unterschiede zwischen mathematischem (vgl. 4.3) und physikalischem Messen lassen es nicht mehr verwunderlich erscheinen, dass die Mathematik Denkbarkeiten eröffnet, die physikalisch nicht realisierbar sind. Kritiker der Mathematik und insbesondere der mengentheoretischen Grundlegung mögen einwenden, dass sie unbrauchbare Modelle für die Welt liefere. Wir hingegen sehen einen Erkenntnisfortschritt darin, dass durch Ausweitung des Bereichs des Denkbaren (vgl. auch 4.4) jener des Machbaren nicht nur von innen, sondern auch von außen besser eingegrenzt und damit besser verstanden werden kann.
Im Hinblick auf den Unterricht in Schulen soll die vorliegende Aufbereitung des PvBT belegen, dass die gleichzeitige Umsetzung folgender Ziele möglich ist:
Um von diesen allgemeinen Gedanken über den Mathematikunterricht nochmals zum PvBT zurückzukehren, wollen wir mit der Empfehlung schließen, die paradoxe Zerlegung einer Kugel aus Holz, Stein, Metall oder anderen Materialien nicht im Werkunterricht zu versuchen.